6.1.3 Die Reformatoren

Betrachten wir zunächst einige aufschlussreiche Äußerungen Martin Luthers und Johannes Calvins über den Jakobusbrief.

„Aber daß ich meine Meinung drauf stelle, doch ohne jedermanns Nachteil, achte ich sie für keines Apostels Schrift, und ist das meine Ursache: Aufs erste, daß sie stracks wider S. Paulum und alle andre Schrift den Werken die Rechtfertigung gibt und spricht, Abraham sei aus seinen Werken rechtfertig worden, da er seinen Sohn opferte. So doch S. Paulus Röm. 4,2.3 dagegen lehret, daß Abraham ohne Werke sei gerecht geworden, allein durch seinen Glauben, und beweiset das mit 1. Mose 15,6, ehe denn er seinen Sohn opferte […] Aufs zweite, daß sie will Christenleute lehren, und gedenkt nicht einmal in solch langer Lehre des Leidens, der Auferstehung, des Geistes Christi. Er nennet Christi etliche Male, aber er lehret nichts von ihm, sondern handelt vom allgemeinen Glauben an Gott.

Denn das Amt eines rechten Apostels ist, daß er von Christi Leiden und Auferstehung und Amt predige und lege desselbigen Glaubens Grund, wie er selbst sagt Joh. 15,27: ‚Ihr werdet von mir zeugen.‘ Und darin stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein, daß sie allesamt Christum predigen und treiben.“ (Martin Luther, Vorrede auf die Epistel S. Jacobi, 1522)

 

„Oberflächliche Erklärer greifen das Wort ‚gerecht werden‘ hier auf und machen dann einen Siegeslärm, es sei hier die Gerechtigkeit in die Werke gelegt – und doch muss eine gesunde Auslegung aus dem ganzen Zusammenhanggesucht werden. Wir haben schon gesagt, dass Jakobus hier gar nicht davon handelt, woher und auf welche Weise die Menschen Gerechtigkeit erlangen – und das ist doch jedermann ganz klar – sondern dass er nur die ständige Verbindung der guten Werke mit dem Glauben im Auge hat. Wenn er also bekennt, dass Abraham durch Werke gerecht geworden sei, so spricht er vom Beweis der Gerechtigkeit. Wer daher den Jakobus dem Paulus entgegensetzt, der benutzt den Doppelsinn des Wortes Rechtfertigung zu grundlosem Geschwätz […] Der Mensch wird nicht durch den bloßen Glauben gerechtfertigt, d.h. durch eine nackte und leere Kenntnis Gottes. Gerechtfertigt wird er durch Werke, d.h. aus den Früchten wird seine Gerechtigkeit erkannt und als gültig erwiesen.

Wenn man weiter Anlass zu dem Verdacht zu haben glaubt, Jakobus hebe denn doch die Gnade Christi zu wenig hervor, als dass man ihm apostolischen Charakter beilegen könne, so ist doch gewiss nicht von allen biblischen Schriftstellern zu fordern, dass ihre Lehre genau die gleichen Gegenstände behandle. Welch ein Unterschied ist zwischen dem Psalter und den Sprüchen! Haben diese ihr Augenmerk gerichtet mehr auf die äußere Bildung des Menschen und die Vermittlung politischer Weisheit, so redet jener offenbar fortwährend über den geistlichen Gottesdienst und Gewissensfrieden, über Gottes Barmherzigkeit und die Verheißung des Heils allein aus Gnade.

Aber aus dieser Verschiedenheit folgt nicht, dass die Billigung der einen Schrift die Verwerfung der anderen bedeuten müsste. Ja, auch unter den Evangelisten selbst herrscht ein derartiger Unterschied in der Darstellung des Heilandes, dass die drei ersten im Vergleich mit Johannes kaum hie und da einen Strahl haben von dem Vollglanz der Herrlichkeit, der dort so hell zu Geltung kommt – und dennoch halten wir alle vier Evangelien mit gleicher Freude fest.“ (Johannes Calvin, Vorrede zum Jakobusbrief, 1551)

 

Luther hat den Jakobusbrief nicht, wie gelegentlich behauptet wird, komplett verworfen, betrachtet ihn aber nicht als apostolisch. Dieses Prädikat kommt nach Luther nur denjenigen Schriften zu, die „Christum predigen und treiben“ (s.o.) Tatsächlich steht das Kreuz Christi nicht im Mittelpunkt des Briefes. Doch bereits Calvin hat das enge hermeneutisches Konzept Luthers kritisiert und ist im Wesentlichen der Argumentation des Augustinus gefolgt. Er stellt fest, dass „eine nackte und leere Kenntnis Gottes“ nicht heilsbringend ist, sondern dass der aus Glauben Gerechtfertigte an seinen Früchten erkannt werde. Dieselbe Argumentation verwendet auch Luther in seiner berühmten Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520):

„Darum sind diese beiden Sprichworte wahr: Gute gerechte Werke machen niemals einen guten gerechten Menschen, sondern ein guter gerechter Mensch tut gute gerechte Werke. Schlechte Werke machen niemals einen schlechten Menschen, sondern ein schlechter Mensch tut schlechte Werke. Daher muss stets die Person zuvor gut und gerecht sein vor allen Werken und es müssen gute und gerechte Werke folgen und ausgehen von der gerechten guten Person. Gleich wie Christus sagt: Ein schlechter Baum trägt keine gute Frucht. Ein guter Baum trägt keine schlechte Frucht. Denn es ist offenkundig, dass nicht die Früchte den Baum tragen, auch die Bäume nicht auf den Früchten wachsen, sondern umgekehrt: Die Bäume tragen die Früchte, und die Früchte wachsen auf den Bäumen. Wie nun die Bäume eher da sein müssen als die Früchte, und wie nun die Früchte die Bäume weder gut noch schlecht machen, sondern die Bäume die Früchte machen – so muss auch der Mensch in seiner Person zuvor gerecht oder böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut. Und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er tut gute oder böse Werke.“

Letzten Endes geht es Augustinus, Luther und Calvin vor allem um die richtige Reihenfolge. Der Mensch kommt nicht durch Werke zum Glauben (bzw. zum Heil), sondern er kommt durch den Glauben zu den Werken. Insbesondere Luther betont jedoch, dass den Gläubigen zeitlebens sowohl Gesetz als auch Evangelium gepredigt werden muss und bezeichnet die Unterscheidung zwischen beiden die „höchste Kunst in der Christenheit“. Den Sinn des Gesetzes sieht Luther vor allem darin, dass er den Menschen ihre Sünden vor Augen führt. Diese Erkenntnis ist Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen dem Evangelium zuwenden. Auch dies erläutert er in seiner bereits erwähnten Freiheitsschrift:

„Und es gilt zu wissen, dass die ganze heilige Schrift in zweierlei Worte aufgeteilt wird, nämlich: Gebot oder Gesetz Gottes und Verheißung oder Zusage. Die Gebote lehren und schreiben uns mancherlei gute Werke vor, aber damit sind diese noch nicht geschehen. Sie weisen wohl an, aber sie helfen nicht; sie lehren, was man tun soll, geben aber keine Kraft dazu. Daher sind sie nur darum angeordnet, dass der Mensch in ihnen sein Unvermögen zum Guten erkenne und lerne, an sich selbst zu verzweifeln. Darum heißen sie auch altes Testament und gehören alle ins alte Testament. So beweist etwa das Gebot: Du sollst keine böse Begierde haben, dass wir allesamt Sünder sind, und dass kein Mensch ohne böse Begierde zu sein vermag, er tue, was er will. Daraus lernt er, an sich selbst zu verzagen und anderswo Hilfe zu suchen, dass er ohne böse Begierde sei, und also das Gebot erfülle durch einen andern, was er aus sich selbst nicht vermag. Und ebenso sind auch alle anderen Gebote uns zu erfüllen unmöglich.

Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, so dass ihm nun Angst wird, wie er denn dem Gebot genüge tue – zumal das Gebot erfüllt sein muss, oder er muss verdammt sein –, so ist er recht gedemütigt und in seinen eigenen Augen zunichte geworden: er findet nichts in sich, wodurch er gerecht werden könnte. Dann jedoch kommt das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusage, und spricht: Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde los werden, wie die Gebote erzwingen und fordern, siehe da, glaube an Christus, in welchem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit zusage. Glaubst du, so hast du. Glaubst du nicht, so hast du nicht. Denn was dir unmöglich ist mit allen Werken der Gebote, deren es viele gibt und die doch keinen Nutzen haben können, das wird dir leicht und kurz durch den Glauben. Denn ich habe kurzum alle Dinge in den Glauben eingeschlossen, so dass der, der ihn hat, alle Dinge haben und selig sein soll; wer ihn nicht hat, der soll nichts haben. Daher geben die Zusagen Gottes, was die Gebote fordern, und vollbringen, was die Gebote befehlen, auf dass alles Gottes eigen sei, Gebot und Erfüllung: Er befiehlt allein, er erfüllt auch allein. Darum sind die Zusagen Gottes Worte des neuen Testaments und gehören auch ins neue Testament.“