3.1.2 Evangelien

Gegenüber den 613 Einzelvorschriften der Tora predigt Jesus eine Konzentration auf das Wesentliche. Auf die Frage der Pharisäer nach dem höchsten Gebot antwortet er: „‘Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt‘ (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘ (3. Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“

Als Hauptgegner seiner Botschaft identifiziert Jesus nicht die Sünder (s.o.), sondern die Schriftgelehrten und Pharisäer. (Matthäus 23, 13-23)

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein und die hineinwollen, lasst ihr nicht hineingehen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Land und Meer durchzieht, damit ihr einen Proselyten gewinnt; und wenn er’s geworden ist, macht ihr aus ihm ein Kind der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr. Weh euch, ihr blinden Führer, die ihr sagt: Wenn einer schwört bei dem Tempel, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Gold des Tempels, der ist gebunden. Ihr Narren und Blinden! Was ist denn größer: das Gold oder der Tempel, der das Gold heiligt? Und: Wenn einer schwört bei dem Altar, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Opfer, das darauf liegt, der ist gebunden. Ihr Blinden! Was ist denn größer: das Opfer oder der Altar, der das Opfer heiligt? Darum, wer schwört bei dem Altar, der schwört bei ihm und bei allem, was darauf liegt. Und wer schwört bei dem Tempel, der schwört bei ihm und bei dem, der darin wohnt. Und wer schwört bei dem Himmel, der schwört bei dem Thron Gottes und bei dem, der darauf sitzt. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen. Ihr blinden Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! Du blinder Pharisäer, reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch das Äußere rein werde! Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von außen hübsch scheinen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat! So auch ihr: Von außen scheint ihr vor den Menschen gerecht, aber innen seid ihr voller Heuchelei und missachtet das Gesetz. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Propheten Grabmäler baut und schmückt die Gräber der Gerechten und sprecht: Hätten wir zu Zeiten unserer Väter gelebt, so wären wir nicht mit ihnen schuldig geworden am Blut der Propheten! Damit bezeugt ihr von euch selbst, dass ihr Kinder derer seid, die die Propheten getötet haben.

Diese Rede folgt beinahe unmittelbar auf die vorherige Frage der Pharisäer nach dem höchsten Gebot und steht auch in direktem Zusammenhang mit dieser. Kaum etwas scheint Jesus wütender zu machen als das kleinliche Befolgen von Regeln, während man die wesentlichen Eigenschaften wie Glaube und Liebe vernachlässigt. Bereits in seiner Bergpredigt warnt er seine Hörer nachdrücklich vor der Scheinheiligkeit dieser Leute und droht auch drastische Konsequenzen an: „Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Matthäus 5,20)

Während Jesus an dieser wie an weiteren Stellen die alttestamentlichen Gesetze relativiert, jedenfalls in dem Sinne, dass er zwischen wichtigen und weniger wichtigen unterscheidet, werden andere Gebote von ihm radikalisiert:

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2. Mose 20,13; 21,12): ‚Du sollst nicht töten‘; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.

Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14): ‚Du sollst nicht ehebrechen.‘

Es ist auch gesagt (5. Mose 24,1): ‚Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.‘

Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Unzucht, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.

Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3. Mose 19,12; 4. Mose 30,3): ‚Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deine Eide halten.‘

Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron;

noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘

Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘ (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen.

Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,

auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Das einzige Mal, dass Jesus namentlich eine neue Kategorie von Sünde einführt, ist folgende Stelle (siehe Quelle):

Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben. Und wer etwas redet gegen den Menschensohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet gegen den Heiligen Geist, dem wird’s nicht vergeben, weder in dieser noch in der künftigen Welt. (Matthäus 12,31-32)