Charakteristika

[Bild]: was widerspiegelt, dass Himmel die Erde berührt

Zwar sind die orthodoxen Kirchen keineswegs so homogen, wie es auf den Blick erscheinen mag, doch gibt es dennoch einige Merkmale, die typisch für das Glaubensleben der orthodoxen Christen in den unterschiedlichen Nationalkirchen ist.

Insbesondere das Heilsverständnis der orthodoxen Welt unterscheidet sich fundamental von dem der westlichen Christenheit. Die lateinische Christenheit (Katholiken wie Protestanten) versteht und beschreibt die Beziehung zwischen Gott und Mensch vor allem mithilfe juristischer Begrifflichkeiten (Richter, Gerechtigkeit, Rechtfertigung etc.). Die griechische Tradition denkt hingegen eher in ontologischen Kategorien. Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum eine Debatte um das rechte Verständnis der Rechtfertigung, wie sie im Zuge der Reformation in Westeuropa ausgetragen wurde, in der orthodoxen Theologie niemals aufkam und terminologisch geradezu undenkbar ist. Die orthodoxe Lehre betont weniger die Rechtfertigung des Menschen vor Gottes Gericht, sondern stärker die Vergöttlichung des Menschen, wobei unter Vergöttlichung die vollkommene Gemeinschaft mit Gott, die Teilhabe des Menschen an der Herrlichkeit Gottes zu verstehen ist. Es herrscht, insbesondere im Vergleich mit der protestantischen Tradition, ein positiveres Menschenbild, ohne jedoch in den pelagianischen Irrtum zu verfallen, der Mensch könne sich selbst erlösen. Vielmehr wird das Prinzip des Zusammenwirkens zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Bemühen betont. In der Christologie steht entsprechend nicht die Satisfaktion durch den Tod Christi im Vordergrund, sondern die Inkarnation und die Auferstehung. Eine ausgebaute Eschatologie ist der orthodoxen Theologie eher fremd. Christus hat der todesverfallenen Welt das unsterbliche, göttliche Leben gebracht. Gott wurde Mensch, auf dass der Mensch vergöttlicht werde.

Aus diesem Grundgedanken heraus erklären sich auch die anderen Charakteristika orthodoxer Theologie, wie etwa die hohe Bedeutung der Liturgie. Wer schon einmal in einem orthodoxen Gottesdienst war, dem wird wohl vor allem die (für Angehörige anderer Konfessionen mitunter übertrieben lang wirkende) Liturgie in Erinnerung geblieben sein. Die irdische Kirche ist nach orthodoxem Verständnis niemals ohne die himmlische zu denken, weshalb man etwa das juristisch geprägte Kirchenverständnis der römisch-katholischen Kirche als defizitär ansieht. Im gottesdienstlichen Raum wird die himmlische Kirche durch die liturgischen Gebete und Gesänge präsent, die himmlische Welt der Engel und der Heiligen berührt für einen Moment die irdische. Liturgische Elemente haben in der orthodoxen Kirche den Rang dogmatischer Gültigkeit. Dieser hohe Stellenwert der Doxologie und Spiritualität übt seit einigen Jahrzehnten eine verstärkte Faszination auf die westliche Christenheit aus, die, insbesondere in ihrer protestantischen Ausformung, ein gewisses spirituelles Defizit nicht verleugnen kann.

Schließlich erklärt sich hieraus auch der weitaus höhere Stellenwert, den Bilder im orthodoxen Glaubensleben einnehmen. Werden diese in der westlichen Kirche, sofern sie nicht gänzlich verworfen werden, häufig eher als Hilfestellung zum Verständnis der biblischen Überlieferung für die Leseunkundigen (biblia pauperum) betrachtet, gelten sie im orthodoxen Christentum als eine Erscheinungsform des Himmlischen in der irdischen Welt. Die Schau des Göttlichen spielt eine größere Rolle als das Hören des Wortes. Die Ikonen sind Fenster zum Himmel. Das maßgebliche Urbild ist Christus selbst. Sämtliche Christusikonen sind somit Abbilder dieses Urbildes, die mit diesem in ontologischer Verbindung stehen. Die Ikonen sind jedoch nicht anzubeten, sondern lediglich zu verehren.

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