8.1.1. Mormonen

Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (HLT), umgangssprachlich „Mormonen“ genannt, verfügt nach eigenen Angaben über mehr als 15 Millionen Mitglieder. Begründet wurde sie durch Joseph Smith (1805 – 1844), der 1820 von seiner ersten Gotteserscheinung berichtete. Gott habe ihn angewiesen, eine neue Kirche zu gründen, da die Bekenntnisse der übrigen Kirchen falsch seien. Ein paar Jahre später habe ein Engel dem jungen Joseph jahrhundertealte goldene Platten gegeben, die er niemandem zeigen dürfe. Da Smith kaum lesen und schreiben konnte, geschweige denn fremde Sprachen beherrschte, erhält er zusätzlich magische Kristalle als „Prophetenbrille“, die er sich vor Augen hält und so die Platten übersetzen kann, indem er sie, hinter einem Vorhang verborgen, einem Freund diktiert. So entsteht die Offenbarungsschrift „Das Buch Mormon“, von dem die Mormonen ihren Namen haben, und das als weitere Offenbarungsquelle neben der Bibel betrachtet wird. Smith achtete sehr darauf, dass niemand die Tafeln je zu Gesicht bekam, während er sie übersetzte. Nachdem der mit der Übersetzung fertig war, gab er sie dem Engel zurück.

 

Auf dieser Grundlage gründete sich am 6. April 1830 die neue Gemeinde. Mormonen sehen darin die „Wiederherstellung“ der untergegangenen Urkirche in den „letzten Tagen“ vor der Wiederkunft Christi. Besonders attraktiv erschien vielen Anhängern die besondere Verbindung zu ihrer nationalen Identität. Laut dem Buch Mormon waren einige Israeliten im 6. Jahrhundert v. Chr. nach Amerika gekommen und hatten sich dort niedergelassen. Später erschien ihnen Jesus (nach seiner Himmelfahrt), predigte das Evangelium, bestimmte zwölf Apostel und fuhr ein zweites Mal gen Himmel. In Amerika hatte auch der Garten Eden gelegen, und hier sollte die Wiederkunft Christi stattfinden.

 

Im Laufe der nächsten Jahre zogen die Mormonen, die nicht selten in Konflikt mit der übrigen Bevölkerung standen, immer weiter nach Westen. 1847 errichten sie mitten in der Wüste die Stadt Salt Lake City und gründeten den späteren Staat Utah. Besonders problematisch war, dass Smith die Polygamie lehrte, die in den USA unter Strafe stand. Erst 1890 wurde diese Lehre aufgegeben, so dass Utah ein US-Bundesstaat werden konnte. Bis heute bildet Utah das Zentrum des weltweiten Mormonentums.

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Ein auffälliges Element mormonischer Glaubenspraxis stellen die Jenseitsrituale dar. So praktiziert die HLT beispielsweise die stellvertretende Taufe für die Toten. Da es nach mormonischem Verständnis zwischen der Urkirche und ihrer Wiederherstellung im Jahre 1830 keine heilsvermittelnde Kirche gab, wird diese Taufe als für jene notwendig erachtet, die in dieser Zeit lebten. Sie wird stellvertretend an einem Nachfahren vollzogen.

Die mormonische Anthropologie trägt eine unverkennbar gnostische Prägung. Menschen leben vor ihrer Geburt als Geistwesen bei Gott. Die vorübergehende Existenzform auf Erden dient der Bewährung unter den Bedingungen der Leiblichkeit, bei der man durch Gesetzesgehorsam Fortschritte erzielen kann. Diese Entwicklung des Einzelnen ist Teil des ewigen Fortschritts, den die ganze Schöpfung und auch Gott selbst durchlaufen. Dieser Fortschritt des Menschen geht nach dem Tod weiter. Im Endgericht entscheidet der Entwicklungsstand darüber, in welche von drei Stufen der Herrlichkeit man eingehen wird. Theoretisch kann der Mensch diese Fortschrittsentwicklung sogar fortsetzen, bis er selbst zum Gott wird – so wie sich auch der Gott der Bibel auf diese Weise einst aus einem Menschen entwickelte. „Wir glauben an einen Gott, … dessen Vollkommenheit im ewigen Fortschritt besteht, an ein Wesen, das Seinen erhöhten Stand erreicht hat auf einem Wege, auf dem jetzt seine Kinder vorwärts schreiten dürfen … Wie der Mensch jetzt ist, war einst Gott; und wie Gott jetzt ist, kann der Mensch einst werden.“

 

In ethischer Hinsicht zeichnen sich Mormonen durch eine strenge Askese aus (kein Kaffee, Tee, Alkohol, Tabak, kein Sex vor der Ehe). Zentral ist außerdem die Betonung der Familie: Für Männer ist Familiengründung religiöse Pflicht, und jeden Montag ist weltweit Familienabend, d. h. die ganze Familie soll Zeit zusammen verbringen. Mormonen sind (in den USA) überdurchschnittlich gebildet und werden unterdurchschnittlich oft kriminell. Sie leben in einer Atmosphäre des Wertkonservatismus und Fortschrittsoptimismus.