4.1.3 Ausbleiben des Gerichts

Es kann Zweifel daran bestehen, dass die frühen Christen mit dem nahen Weltende rechneten. Betrachtet man die Worte Jesu (s.o.), ist dies auch nicht weiter verwunderlich. Das Ausbleiben des Endgerichts scheint für die damalige Generation von Christen jedoch ein weitaus geringeres Problem gewesen zu sein, als es vielen heutigen Theologen erscheint. Zwar ringt die frühchristliche Gemeinde unübersehbar mit dem Problem der ‚Verspätung‘ der Wiederkunft Jesu, doch hält sie an dessen ursprünglicher Botschaft fest, ohne diese nachträglich zu verändern. In ihrem Sprachgebrauch nimmt sie hingegen notwendige Modifikationen vor. So verschwindet der Begriff ‚Reich Gottes‘, der für die Predigt Jesu konstitutiv war (s.o.), nahezu völlig aus dem Vokabular der nachösterlichen Gemeinde.[1] An seine Stelle tritt die theologische Betrachtung der Person und des Wirken Jesu Christi, die Christologie. Papst Benedikt XVI. schreibt hierzu treffend: „Für die urchristliche Generation war jedenfalls die Ausbildung der Christologie gerade der Ausdruck ihrer Treue nicht nur zur Person, sondern auch zum Wort und Werk Jesu; dass sie in der Evangelienüberlieferung gleichzeitig das Wort in seiner Anfangsgestalt aufbewahrte, zeigt, dass dieses Wort für sie Gegenwart bleibt und gehört werden konnte, ohne dass damit ein Bruch mit dem tatsächlich gelebten Christentum entstand.“

Wie aber ist es nun zu verstehen, dass Jesus das unmittelbare Einbrechen des Gottesreiches verkündet, dies aber nicht geschieht? Die kürzeste und vielleicht beste Erklärung liefert der 2. Petrusbrief: „Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde.“

Viele moderne Theologen sahen (und sehen) hingegen in der Tatsache, dass die von Jesus angekündigte Parusie nicht eingetreten ist, einen unüberwindbaren Graben zwischen dem historischen Jesus und dem heutigen Christentum. Vielleicht am prominentesten wurde dieser Gegensatz von Albert Schweitzer (1875-1965) formuliert:

„Wir haben uns also in die Tatsache zu finden, dass Jesu Religion der Liebe in der Weltanschauung der Weltenterwartung auftritt. In den Vorstellungen, in denen er sie verkündete, können wir sie nicht zu der unsrigen machen, sondern müssen sie uns in diejenigen unserer neuzeitlichen Weltanschauung übertragen […] Nicht mehr wie die, die der Predigt Jesu lauschen durften, erwarten wir, dass das Reich Gottes sich in übernatürlichen Ereignissen verwirklichen werde. Wir halten dafür, dass es allein durch die Kraft des Geistes Jesu in unseren Herzen und in der Welt entsteht. Das einzige aber, worauf es ankommt, ist, dass wir von der Idee des Reiches Gottes so beherrscht sind, wie es Jesus es von den Seinen verlangt.“

Theologen wie Schweitzer und andere möchten das transzendente Reiche Gottes gegen ein immanentes Reich Gottes austauschen. Anstelle des übernatürlichen Wirkens Gottes, der sein Reich in Macht und Herrlichkeit herbeiführt, vertrauen diese Theologen eher auf die ethische Fähigkeit des Menschen, das Reich Gottes mit eigenen Kräften auf der Erde Wirklichkeit werden zu lassen. So richtig es sein mag, das Liebesgebot Jesu in unseren Leben zu verwirklichen, so lehnt das Neue Testament eine politische Umsetzung des Gedankens vom Reich Gottes strikt ab. Der Apostel Paulus formuliert es unmissverständlich: „Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat. Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon! Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist einer, der als Freier berufen wurde, Sklave Christi. Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen! Brüder und Schwestern, jeder soll vor Gott in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat.“ (1. Kor. 7,20-24) Wieder trifft Papst Benedikt den entscheidenden Punkt: „Das Christentum hatte keine sozialrevolutionäre Botschaft gebracht, etwa wie die, mit der Spartakus in blutigen Kämpfen gescheitert war. Jesus war nicht Spartakus, er war kein Befreiungskämpfer wie Barabbas oder Bar-Kochba. Was Jesus, der selbst am Kreuz gestorben war, gebracht hatte, war etwas ganz anderes: die Begegnung mit dem Herrn aller Herren, die Begegnung mit dem lebendigen Gott und so die Begegnung mit einer Hoffnung, die stärker war als die Leiden der Sklaverei und daher von innen her das Leben und die Welt umgestaltete.“

[1] Die Wendung „Reich Gottes“ taucht insgesamt 122-mal im Neuen Testament auf, davon 99-mal in den synoptischen Evangelien.