1.1.2 Die Evangelien

Auch in die Evangelien wird die Sünde als universales Problem dargestellt. Johannes der Täufer predigt die „Taufe der Buße (metanoia) zur Vergebung der Sünden“, und auch Jesus ruft zur entsprechenden Buße für die Sünden auf. In seinen berühmten Worten „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ lässt sich ebenfalls erkennen, dass er mit der Sündhaftigkeit aller Menschen rechnet.

Dem entgegen stehen allerdings andere Stellen, in denen Jesus zwischen Sündern einerseits und Gerechten andererseits unterscheidet, so zum Beispiel in seiner Ankündigung „Ich bin gekommen die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“. Auch sein Gleichnis vom verlorenen Schaft beendet er mit den Worten: „Ich sage euch: Ebenso wird im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr (metanoia)[1] nötig haben.“ Vermutlich sind an diesen Stellen mit dem Begriff ‚Sünder‘ Menschen einer bestimmten Schicht und/oder eines bestimmten Berufsstandes gemeint, die nicht den hohen Anforderungen der pharisäischen Gesetzlichkeit genügen. Das vollständige Einhalten der Tora erforderte ein nicht geringes Maß an Bildung, Zeit und Geld, über das nur wenige Menschen jener Zeit verfügten. So ist wohl auch der Vorwurf der Pharisäer gegenüber Jesus zu verstehen, er sei ein „Freund der Sünder“. Dies bezieht sich vermutlich in erster Linie darauf, dass er in gewissen Kreisen verkehrte, von denen sich die Pharisäer fernhielten. Gut zu beobachten ist dies beispielsweise in folgender Geschichte:

„Einer der Pharisäer hatte ihn zum Essen eingeladen. Und er ging in das Haus des Pharisäers und begab sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau, die in der Stadt lebte, eine Sünderin, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers zu Tisch war; da kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran zu seinen Füßen. Dabei weinte sie und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen. Sie trocknete seine Füße mit den Haaren ihres Hauptes, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, sagte er zu sich selbst: Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist.“ (Lukas 7,36-39)

Dass die Frau eine Sünderin ist, wird einfach als Information in den Text gestreut, ohne nähere Begründung. Das kann nur zu verstehen sein, dass jedem am Tisch augenblicklich klar war, dass es sich um eine Sünderin handelt. Möglicherweise war sie aufgrund ihres Äußeren als Prostituierte zu erkennen. In jedem Fall aber kennzeichnet sie die Bezeichnung ‚Sünderin‘ hier nicht als besonders schlechte Person, im Gegenteil. Der Sinn der Geschichte liegt ja gerade darin, ihre Überlegenheit gegenüber den ‚gerechten‘ Pharisäern zu illustrieren, deren Scheinheiligkeit Jesus hier wie an so vielen anderen Stellen entlarvt. Die Unterscheidung zwischen Gerechten und Sündern findet in den Evangelien also auf sozialer Ebene statt, nicht auf ethischer.

 

[1] Das griechische Wort metanoia wird in manchen Übersetzungen mit ‚Buße‘ wiedergegeben (s.o.), in anderen mit ‚Umkehr‘, wobei letzteres der ursprünglichen Wortbedeutung näherkommt.